Heute Nacht jährt sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zum 35. Mal.

Am 26. April 1986 um 1:23 lief der Versuch des Nachweis der Aufrechterhaltung der Kühlsysteme bei einem simulierten Stromausfall außer Kontrolle und Reaktor 4 überschritt innerhalb weniger Sekunden seinen Leistungsbereich um mehrere Größenordnungen, was schließlich zur Explosion des Containments und des gesamten Reaktorgebäudes und der Freisetzung radioaktiven Materials in die Umwelt führte.

35 Jahre später stehen wir in Deutschland kurz vor dem Ausstieg aus der aktiven Nutzung der Kernkraft, und immer häufiger lese ich den Vorwurf, dieser Ausstieg sei angesichts der Gefahren der Klimakatastrophe ideologisch verblendet und wissenschaftsfeindlich und statt ihn zu vollziehen, müssten wir nun gerade wieder in Kernkraft investieren.

Mich machen solche Behauptungen ziemlich sauer, nicht weil manche der vorgebrachten Argumente nicht durchaus ihre Berechtigung haben, sondern weil mir ihre Schlussfolgerungen absolut unterkomplex und ziemlich fern von Praxis der Kontrolle kerntechnischer Systeme zu sein scheinen. Außerdem finde ich das prinzipielle Herunterspielen der Gefahren von Kernenergie scheinheilig.

Ich bin kein Physiker und auch kein Reaktor-Ingenieur. Ich bin kerntechnischer Laie. Ich betreue IT-Systeme. Und trotzdem erlaube ich mir ein paar Dinge über Sicherheit zu sagen, weil wir in der IT-Welt gelernt haben, dass wir in Bezug auf Sicherheit immer vom schlimmsten Szenario auszugehen haben – und zwar weil die Forschung der IT-Security regelmäßig unerwartete Umstände entdeckt, die die schlimmsten Szenarien möglich machen.

Die Probleme der Kernenergie liegen nun natürlich nicht darin, dass jede Woche eines in die Luft flöge oder bei jedem Störfall Menschen zu Schaden kämen. Das ist natürlich nicht so, aber gleichzeitig vergisst man dabei die Hauptprobleme, die den Umgang mit Kernenergie trotzdem sehr gefährlich machen. Und das sind im wesentlichen zwei:

1.) Die Gefahr, die von den eingesetzten radioaktiven Stoffen ausgeht ist für den Menschen und seine biologische Sensorik unsichtbar. Es ist also nicht trivial, selbst mit Messinstrumenten, stets einen sicheren Abstand zu erkennen und einzuhalten, das Ausmaß der Gefährdung stets zu bewerten, oder sich dem gefährlichen Einfluss zu entziehen. Nun gilt natürlich auch für andere Gefahrenstoffe oder Situationen, wie etwa Krankheitserreger oder giftige Gase. Dennoch unterscheiden sich diese Gefahren natürlich qualitativ sehr stark. Denn es ist bei quasi allen anderen dieser Gefahren einfacher, die Umgebung von ihnen zu entkontaminieren. Die Tatsache, dass diese radioaktiven Stoffe eine unsichtbare Gefahr für Lebewesen darstellen für Zeitspannen, die jegliche menschliche Dimensionen weit sprengen, und dass die Mengen, die in solchen Reaktoren entstehen, ausreichend sind, um die gesamte Biosphäre zu kontaminieren, macht den Umgang mit diesen Stoffen einzigartig schwierig.

Man kommt also beim Umgang mit ihnen letztlich zum Schluss, dass unter keinen Umständen diese Stoffe in diesen Mengen, die in einem solchen Reaktor entstehen, unkontrolliert in die Umwelt gelangen dürfen, ohne eine Gefahr für eine Zeitspanne darzustellen, die jede menschliche Zivilisation sprengt. Und diese Voraussetzung, die an die Nutzbarkeit der Kernenergie gekoppelt ist, macht sie so wahnsinnig aufwändig und teuer.

Denn die Erkenntnis, die daraus folgt, macht ein Kernkraftwerk so viel schwieriger in seiner Absicherung als jede andere technische Anlage, die von Menschen betrieben wird, bei der im Fehlerfalle auch hohe Energiemengen abgeführt werden können müssen. Denn in einem Störfall muss natürlich die Energie, die in dem System steckt, irgendwo hin können, wie bei anderen Systemen eben auch. Nur darf bei einem Kernkraftwerk eben niemals und unter keinen Umständen, dies dazu führen, dass radioaktives Material in die Umwelt gelangt. Platt gesagt: Explodieren verboten.

2.) Nun haben Kernreaktoren die unschöne Eigenschaft, dass sie nicht nur im Betrieb, sondern selbst im “ausgeschalteten Zustand” noch über lange Zeiträume sehr, sehr viel Energie abgeben. Und das bedeutet: Die Kühlsysteme in einem solchen Kernkraftwerk dürfen nie, nie, niemals versagen. Denn wenn dies passiert und eine Kühlung nicht wieder rechtzeitig hergestellt werden kann, führt das immer früher oder später dazu, dass der Reaktor nicht mehr unter Kontrolle ist, womöglich unaufhaltsam eine Kernschmelze eintritt, oder sich z.B. Wasserstoff ansammelt und Knallgas entsteht und wegen einer möglichen Explosion die Gefahr des Austritts von radioaktivem Material in die Umwelt gegeben ist.

Und unabhängig von Reaktortypen oder Bauarten, unabhängig vom Ausmaß an menschlichem Versagen, in quasi allen großen Reaktorunfällen hat dieser Zusammenhang eine Rolle gespielt. Das Versagen von Kühlsystemen (oder von Menschen beim richtigen Umgang mit Kühlsystemen) führte stets zum jeweiligen Unglück.

Und wir IT-Menschen wissen: Systeme, deren Sicherheit davon abhängt, dass eine zentrale Komponente niemals versagen darf – selbst wenn sie redundant ausgelegt ist – sind gefährlich. Wir wissen: Jede Komponente eines komplexen Systems enthält Fehler, Schwachstellen und unerwartete Fallstricke, an die wir Ingenieure beim Design dieser Komponenten nicht gedacht haben oder ihre Bedeutung falsch eingeschätzt haben. Wir können Systeme so bauen, dass sie verhältnismäßig robust sind, aber wir können niemals garantieren, dass sie niemals versagen können.

Und dabei ist die Welt von Prozessoren und Computerprogrammen noch so viel deterministischer, als die so viel komplexere Welt von Physik und Chemie, die wir bei weitem nicht so präzise messen können, wie die Zustände in unseren Programmen mittels eines Debuggers. Und dennoch lehrt uns die Erfahrung, mit der wir all die Fehler in unseren Programmen über viele Iterationen hinweg beseitigen immer wieder: Wir denken niemals an alles und unsere Systeme nehmen dennoch Zustände ein, die wir für unmöglich gehalten haben. Und deswegen vermeiden wir es, Systeme zu bauen, deren Versagen direkt derartig schwere Folgen für die gesamte Zivilisation haben können. Denn wer behauptet, es gäbe absolut sichere Systeme, der lügt ganz einfach. Solche Systeme dennoch zu bauen und einzusetzen ist Ausdruck menschlicher Hybris.

Deswegen ist die Nutzung von Kernenergie unmoralisch und muss beendet werden. Denn wenn sie schief geht, macht man sich der Beeinträchtigung und Gefährdung tausender folgender Generationen schuldig.

Aber auch wenn ich davon überzeugt bin und es für unmoralisch halte Systeme zu bauen, die quasi niemals wirklich versagen dürfen, bin ich mir natürlich darüber im Klaren, dass es nicht unmöglich ist, Kernkraftwerke so zu bauen, dass sie signifikant sicherer sind, als all die alten Kraftwerke, die wir seit vielen Jahrzehnten im Einsatz haben.

Ich bin mir bewusst, dass es modernere Konzepte gibt, die auch für viele Unfall-Szenarien immer noch eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür bieten, dass eben keine radioaktiven Stoffe in die Umwelt gelangen. Oder Verfahren, die versprechen könnten, dass wir existierenden radioaktiven Müll in seiner Gefährlichkeit etwas reduzieren könnten.

Das ändert jedoch nur wenig an meiner grundsätzlichen Ablehnung von Kernenergie. All diese Verfahren haben gemeinsam, dass sie bisher ihre Versprechen in der Praxis nicht bewiesen haben. Sie haben auch gemeinsam, dass, wie es bei klassischen Kraftwerken für frühere Unfallszenarien galt, wir auch noch nicht wissen, welche noch unentdeckten Schwachstellen in den neuen Konzepten stecken können – auch hier wieder der Vergleich aus der IT-Welt: Systeme werden nicht deshalb unsicherer, weil unsere Software unsicherer gemacht wird, sondern weil wir über die Zeit hinweg mehr darüber lernen, in welchem vorher unterschätzten Ausmaß Dinge kaputt gehen könne. Alle Unsicherheiten waren jedoch schon vorher im System angelegt. Und selbst wenn wir zu dem Schluss kämen, dass diese Systeme so sicher wären, so bleibt der wichtigste Grund, warum wir die Finger von dieser “neuen” Kernenergie lassen sollten:

Sie ist zu teuer und viel, viel, viel zu langsam im Kampf gegen die Klimakatastrophe. Alle nötigen Alternativen sind billiger, schneller skalierbar und ungefährlicher. Und vor allem: Sie sind sofort verfügbar und nicht erst in etlichen Jahren.

Lasst euch also bitte keinen Scheiß von den Lobbyisten von Nuklearia oder ähnlichen einreden. Das was die als “evidenzbasiert” im Umgang mit der Kernkraft bezeichnen, ist vor allem Lobby-Gelaber, um nicht zu sagen: pure Ideologie.