Liebe Freund*innen,

Bündnis 90/Die Grünen haben diese Woche ihre Online-Abstimmung zum ausgehandelten Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP gestartet. Und ich nutze dieses Wochenende, um endlich das aufzuschreiben, was ich seit fast einem halben Jahr vor mir her schiebe. An der Abstimmung über den Koalitionsvertrag der Ampel werde ich nicht teilnehmen, denn wie zwar einige, aber viele sicher nicht wissen: Ich bin kein Mitglied dieser Partei mehr. Noch während der BDK im Juni, die die Satzungsänderung verabschiedet hat, die diese Online-Abstimmung ermöglicht, hatte ich meinen Austritt erklärt.

Ich war seit 2006 Mitglied bei den Grünen und war das auch immer sehr gerne – und betrachte mich auch heute noch freundschaftlich verbunden. Viele meiner mir wichtigsten Freund*innen habe ich durch oder bei den Grünen kennengelernt, die Grünen haben mich sehr geprägt und auch heute bin ich weiterhin davon überzeugt, dass keine andere Partei in Deutschland in Summe so nah an den drängendsten Themen der Zeit ist, wie diese. Und während ich in all dieser Zeit viel gelernt habe, viele meiner Überzeugungen sich auch verändert und entwickelt haben und ich immer bereit war, Kompromisse auch mit zu tragen, die in Teilen dennoch entgegen meiner Überzeugungen standen, so gab es ein paar wenige rote Linien, bei denen mir immer klar war, ich könnte nicht weiter Mitglied einer Partei sein, die einen solchen Weg geht. Und genau das ist im Juni mit der Schaffung der Möglichkeit einer Online-Urabstimmung passiert. Dass ich in diesem Falle die Partei verlassen würde, hatte ich eigentlich schon viel früher entschieden, trotzdem war es natürlich nach so langer Zeit nicht weniger schmerzhaft.

Die Schaffung eines solchen Verfahrens für Online-Abstimmungen deutete sich bereits seit langer Zeit an. Ich glaube auf dem allerersten Barcamp des Vereins Netzbegrünung haben wir 2015 erstmals mit Michael Kellner darüber gesprochen, dass ihm eine solche Form der Beteiligungsmöglichkeit vorschwebt. Im Vorfeld der Jamaica-Sondierungen von 2017 dann wollte der Bundesvorstand durch den Länderrat die Option schaffen, einen möglichen schwarz-gelb-grünen Koalitionsvertrag von allen Mitgliedern elektronisch abstimmen zu lassen. Dies traf damals noch auf deutlichen Widerstand, nicht zuletzt aus der BAG Digitales und Medien, die sich meiner entschiedenen Kritik anschloss.

Für alle, die die seit mehr als 15 Jahren währende Debatte um digitale Wahlen und Abstimmungen in ihren verschiedenen Iterationen nicht verfolgt haben, hier eine kurze Zusammenfassung der Grundproblematik: Bei einem elektronischen Wahl- oder Abstimmungsverfahren werden abgegebene Stimmen innerhalb eines Computersystems verarbeitet. Das Computersystem muss nun die folgenden elementaren Anforderungen an das Wahl- oder Abstimmungsverfahren sicherstellen: Die Zuordnung einer Stimme zu einer wählenden oder abstimmenden Person geheim halten und gleichzeitig alle Stimmen korrekt zu zählen. Einem Computersystem kann man nicht bei der Arbeit zusehen, so wird es für Menschen unmöglich, selbst den Prozess der Ergebnisermittlung zu beobachten, den zu beobachten beim Einsatz einer Wahlurne eher trivial ist. Wenn man also eine Möglichkeit der Nachprüfbarkeit schafft, dass Stimmen korrekt gezählt werden, generiert man einen Zielkonflikt mit dem Wahlgeheimnis – und umgekehrt gibt es keine Möglichkeit zu prüfen, dass alle Stimmen korrekt gezählt wurden, wenn man sicherstellt, dass das Wahlgeheimnis gewahrt wird.

Dieser Zielkonflikt ist aus Sicht der Informatik ein sehr ungewöhnliches Problem. Seit Jahrzehnten arbeiten kluge Menschen an komplexen mathematischen Verfahren, die diesen grundsätzlichen Zielkonflikt entweder auflösen oder entschärfen sollen. Man behilft sich mit der Nachprüfbarkeit von Software-Code, oder erzeugt Papier-Kopien der abgegebenen Stimmen, um eine zusätzliches, menschenlesbares Verifikationsergebnis zu erhalten. Einige meinen, man könne durch die Nachprüfbarkeit der eigenen abgegebenen Stimme auf die Nachvollziehbarkeit der korrekten Ergebnisermittlung aller abgegebenen Stimmen verzichten, warum verstehe ich bis heute nicht. Eine zufriedenstellende Lösung ist selbst bei stationären Wahlcomputern im Grunde bisher niemandem gelungen. Aber gleichzeitig entstand in den letzten 10 Jahren der Wunsch, solche Abstimmungen nicht nur elektronisch vor Ort, sondern online übers Internet durchführen zu können. Die technische Komplexität aller beteiligten Systeme steigt dabei zwar ins Unermessliche, trotzdem ignorieren viele, die daraus erwachsenden potentiellen Probleme. Die meisten Informatiker*innen sind inzwischen eher der grundsätzlichen Überzeugung, dass elektronische Wahlen und Abstimmungen keine kluge Idee sind und deshalb niemals den gleichen demokratischen Standards genügen können, wie wir sie beispielsweise an eine Bundestagswahl anlegen.

Der große qualitative Unterschied zu einer Wahlurne ist immer dieser: Alle Menschen verstehen intuitiv, dass eine Urne genau nur eine Operation auf einen Satz von abgegebenen Stimmen durchführt, nämlich diese durchzumischen. Eine Veränderung der abgegebenen Stimmen innerhalb der Urne ist quasi unmöglich, auch das Hinzufügen oder Entfernen von Stimmen lässt sich durch die Beobachtung der Urne über die Dauer der Wahlhandlung weitgehend ausschließen. In einem Computer hingegen ist prinzipiell jede Informationsverarbeitung und -veränderung möglich, das ist das Prinzip eines Universalcomputers. Die Richtigkeit des Ergebnisses hängt davon ab, dass die Software des Computers nichts Unerwünschtes tut, aber der Software kann niemand beim Arbeiten zusehen. Auch Expert*innen verstehen hier allenfalls mit hinreichender Wahrscheinlichkeit, was ein System tun sollte, nicht, was es tatsächlich tut.

Das Bundesverfassungsgericht hat daher in einem Urteil zum Einsatz von Wahlcomputern bei Bundestagswahlen im Jahr 2009 den Grundsatz gefasst “dass die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl […], der gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen […]”.

Für mich ist damit ein demokratischer Goldstandard zur Ergebnisermittlung demokratischer Wahlen und Abstimmungen definiert. Und davon sollte man bei allen Entscheidungen von Tragweite nach meiner Überzeugung nicht abweichen, wenn man demokratische Prinzipien ernst nimmt.

Nun wurde von solchen Standards innerhalb der Partei aber natürlich schon sehr lange abgewichen. Sei es durch den Einsatz von wahrscheinlich unverschlüsselten Televoting-Systemen (mindestens seit 2006, wenn nicht länger), oder durch die organisatorischen Hürden in der Praxis, dass ich nicht gleichzeitig die Auszählung einer Zählkommission beobachten kann und parallel dem Fortgang einer Versammlung im Plenum folgen kann. Letzteres finde ich auch innerhalb einer Partei, in der sich alle Menschen zu demokratischen Standards bekennen und man sich auf die hohen moralischen Standards anderer aufgrund eines Vertrauensverhältnisses verlassen kann, auch nicht unbedingt tragisch, aber es ist wichtig, dass wir die problematischen Implikationen für demokratische Prozesse niemals völlig außer Acht lassen, wenn Versammlungen und Parteitage durchgeführt werden.

Dementsprechend ist die Entscheidung, den Einsatz von Online-Abstimmungsverfahren zu ermöglichen, für mich von neuer Qualität. Denn hier kommt es nicht mehr vorwiegend auf die Zuverlässigkeit von Menschen an, sondern plötzlich spielt IT-Sicherheit eine Rolle für die Frage, ob man sich “erlauben” kann, Abstimmungen online durchzuführen, und plötzlich rückt automatisch die Frage einer Risiko-Bewertung nach solchen Maßstäben in den Mittelpunkt, statt die Nachvollziehbarkeit des Verfahrens.

Nach dem Länderrat im Jahr 2017 wurde also eine Kommission ins Leben gerufen, die die Frage der Möglichkeit von Online-Abstimmungsverfahren erörtern sollte. Auch die Netzbegrünung wurde eingeladen, an dieser Kommission teilzunehmen, was sie auch tat. Ich selbst war nicht Mitglied dieser Kommission, sondern habe die Arbeit nur verfolgt und punktuell inhaltlichen Input der Netzbegrünung mit vorbereitet. Von all dem, was bei mir ankam (was nicht allzu viel Konkretes war), war ich in vielerlei Hinsicht irritiert. Meine Befürchtung, dass man mit ausschweifenden Diskussionen über Quellcode-Offenlegung und Sicherheitskonzepte sich einen Zustand der “Akzeptabilität” eines Verfahrens herbei-abwägt, wurde letztlich bestätigt. Das Abschluss-Dokument der Kommission begeht des Kunstück, trotz besseren Wissens über kaum kalkulierbare Risiken eine eher willkürliche Abwägungsentscheidung zu treffen, die dem Parteivorstand die Wunsch-Umsetzung eines solchen Verfahrens mit einem Dienstleister, mit dem man seit Jahren im Gespräch war, ermöglichte. Eine ehrliche Bewertung von Risiken erkenne ich im Ergebnis nicht – insbesondere nachdem Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen 2020 bewiesen hat, dass die größte Gefahr elektronischer Systeme darin besteht, unwiderlegbare Zweifel und Behauptungen streuen zu können. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Arbeit der Kommission nie wirklich ergebnisoffen war, sondern stets auf das Ziel ausgerichtet war, die Rahmenbedingungen für den Einsatz von Online-Abstimmungen zu definieren. Als jemand, der über Jahre versucht hat, Expertise in dieser Diskussion beizusteuern, fühle ich mich mit meinem Input daher auch missbraucht. Deshalb fiel mir die Austritts-Entscheidung trotz Wut, Enttäuschung und auch Verlust-Empfindungen letztlich nicht mehr allzu schwer.

Kritiker*innen mögen mir vorwerfen, nicht genug gegen die Verabschiedung der Satzungsänderung getan zu haben. Und das kann ich angesichts der Tatsache, dass ich gar den Zeitpunkt der Abstimmung versäumt habe, auch verstehen. Ich möchte dabei aber eines deutlich machen: Die Partei hat eine Tendenz, Menschen mit technologischem Know-How schnell für die Aufrechterhaltung ihrer eigenen technischen Infrastruktur einzubinden. Viele Jahre meines Partei-Engagements habe ich damit verbracht, Technik auf Parteitagen zu organisieren, Input zur technischen Weiterentwicklung parteieigener digitaler Infrastruktur zu liefern und einiges davon über Jahre hinweg ehrenamtlich mit aufzubauen. Die Partei ist gut darin, Menschen mit technischem Know-How mit ihrer Energie für Infrastruktur zu binden. Und wenn es um technische Kompetenz in politischen Fragen geht, stehen Jurist*innen oft an erster Stelle, diese zu beantworten. Dies ist zwar mit der Gründung der Verdigado e.G., in der nun kluge Menschen hauptberuflich IT-Beratung in der Partei machen, sicherlich besser geworden, aber trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass in kritischen Fragen den Warnungen von Menschen mit hoher technischer Kompetenz wirklich ausreichend Gehör geschenkt wird. Sonst würde man Software-Projekten Monate oder Jahre, statt Wochen bis Monate zur Umsetzung geben und nicht Feature-Wünsche Tage oder Stunden vor Veranstaltungsbeginn einkippen. So verbrennt man jedenfalls die Menschen, die man zur Umsetzung von Projekten braucht.

Ich fürchte, der Partei fehlt das technische Verständnis, welche gigantische Herausforderung eine halbwegs ernstzunehmende Absicherung eines solchen Verfahrens bedeutet. Und auch wenn ich erkennen kann, dass der gewählte Dienstleister viele gute und richtige technische Maßnahmen trifft, eine möglichst gute technische Infrastruktur zu designen, so bin ich nicht davon überzeugt, dass dies auch nur annähernd an die Vorstellung heran reichen kann, dass “die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung … zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können”. Gegen neue, ungewöhnliches IT-Sicherheits-Bedrohungen der Kategorie “Meltdown”, bleibt man stets anfällig und setzt die Integrität wichtiger demokratischer Infrastruktur einer Gefährdung aus. Und nicht zuletzt hat der betroffene Dienstleister immer das Interesse, diese spezielle Dienstleistung auch verkaufen zu können.

Das größte Problem elektronischer Wahl- und Abstimmungsverfahren ist aber nicht die Sicherheit aller Computersysteme. IT-Sicherheit sollte nicht die entscheidende Frage für einen demokratischen Standard sein, sondern die Nachvollziehbarkeit des jeweiligen demokratischen Verfahrens. Das größte Problem ist die Entfremdung der Menschen von der Ergebnisermittlung ihrer demokratischen Entscheidungen. Es geht um das Verständnis, dass sie in einer Demokratie sich nicht allein darum sorgen müssen, dass ihre Meinung gehört wird und sie an einer Wahl oder Abstimmung teilnehmen können, sondern dass das Ergebnis einer solchen Abstimmung nur dann demokratisch befriedend wirken kann, wenn auch die unterlegene Partei davon überzeugt ist, dass das Ergebnis einer Wahl oder Abstimmung korrekt ist und sich beide Seiten einer fairen Auseinandersetzung gestellt hatten. Und davon muss sich die unterlegene Seite auch selbst überzeugen können.

Als ich Michael im Juni auf der BDK-Party darauf ansprach, dass ich zwar verstehe, dass er glaubt, dass eine Online-Urabstimmung ein großer Beitrag zur Beteiligung der Parteibasis ist, ich dies aber nicht unterstützen kann und deshalb aus der Partei austrete, reagierte er mit “aber wir wollen damit doch gar keine Wahlen durchführen, sondern nur den Koalitionsvertrag abstimmen”. Nun, die Abstimmung über den Koalitionsvertrag ist wahrscheinlich die für die Menschen in Deutschland (und darüber hinaus) folgenreichste demokratische Entscheidung der Partei Bündnis 90/Die Grünen der letzten 20 Jahre, ihre Ergebnisermittlung ist nicht weniger relevant, als die einer geheimen Wahl. Den Ausweg aus dem e-Voting-Dilemma, nämlich sich auf offene, namentliche Abstimmungen zu beschränken (und man die Nachvollziehbarkeit durch den Verzicht auf die Anforderung, das Abstimmungsgeheimnus zu wahren, sicherstellt), ist im Falle dieser Urabstimmung über den Koalitionsvertrag auch nicht gegeben. Hier soll die Abstimmung geheim sein. Damit ist sie aber prinzipbedingt nicht mehr nachvollziehbar. Mir ist nicht wohl bei der Vorstellung, eine Entscheidung von solch nationaler Tragweite von dem korrekten Funktionieren von Computersystemen abhängig zu machen. Den Koalitionsvertrag finde ich überwiegend gut, aber das Vorhaben darin, Parteien die Möglichkeit zu “digitalen Wahlen” zu geben, kann ich nicht unterstützen.

Liebe Grüne, ich war mehr als 15 Jahren sehr gerne Mitglied der Partei. Mein Wunsch ist, verabschiedet euch bei der Evaluation dieser Satzungsregelung von der Möglichkeit der digitalen Urabstimmung wieder, dann trete ich auch gerne wieder in die Partei ein.