Wenn man beginnt, Enttäuschung zu verstehen
Liebe (Mit-)Grüne,
es ist Sonntag, die Wahl ist vorbei, dieser Text entsteht jedoch bereits zuvor. Ich weiß also noch nicht, wie die Wahl für uns ausgegangen ist. Ich befürchte, nicht allzu überragend.
Liebe Grüne, es mag zu früh sein, über Erklärungen zu schwadronnieren. Für mich ist es aber der Moment des Endes einer Sprachlosigkeit.
Liebe Grüne, ich habe mit euch gefremdelt. Ich habe mir schwer getan in diesem Wahlkampf. Ich war nicht mit ganzem Herzen bei der Sache und ich war mehr als nur einmal frustriert und habe mich abseits gefühlt. Liebe Grüne, ihr seid meine politische Heimat. Zu keinem Zeitpunkt habe ich schwerwiegende Differenzen zwischen unserem Programm und meiner politischen Haltung festgestellt.
Dennoch, liebe Grüne, in diesem Wahlkampf gab es etwas, was mich abgestoßen hat, etwas, was mich hat zweifeln lassen, dass
Das Versagen im Kampf um die Demokratie
Liebe Grüne, wir nehmen für uns in Anspruch, die Partei ohne einfache Lösungen zu sein. Diejenigen zu sein, die genau hinschauen. Liebe Grüne, wie kommt es, dass wir nach Bekanntwerden des größten Skandals der Geschichte, der das informationelle Selbstbestimmungsrecht betrifft, unsere Antwort die ist, dass es uns zu kompliziert ist, uns damit auseinanderzusetzen?
Volker Beck sagte im taz-Interview vom 30.8.2013:
„Die SPD hatte einfach nicht begriffen, welche große Frage mit der Ökologie auftauchte.“
Zwei Fragen später, gefragt nach einer neuen grünen Erzählung sagt er
„Die brauchen wir nicht: Die ökologische Frage ist drängender denn je. Auch wenn viele andere Umweltschutzpolitik machen: Wir machen ökologische Politik. Das ist viel umfassender, da geht es nicht nur um Reparatur, wir gehen das systemisch an. Über Internet und Digitalisierung haben wir übrigens schon diskutiert, bevor es die Piraten gab.“
Lieber Volker, dies ist natürlich nicht falsch! Aber dennoch begehst du den gleichen Fehler, wie die SPD damals! Bei der Digitalisierungsdebatte von der du sprichst, halten wir nicht mit der Debatte mit, wie nicht nur die Piraten sie führen. Und du verkennst ihre Bedeutung. Denn es geht nicht um Digitalisierung, es ist die Frage nach der Demokratie insgesamt. Wenn es um die Totalüberwachung der Menschheit durch Technologie geht, ist eine zentrale Grundlage für Demokratie in Gefahr: individuelle Entscheidungsfreiheit, wenn Entscheidungen von Code getroffen werden.
Liebe Grüne. Wir sind die Partei, die für sich beansprucht, die zwei entscheidenden Fragen der Zukunft zu diskutieren. Da ist die ökologische Frage, die unsere Gründung rechtfertigte. Und da ist die Frage der (globalen und generationenübergreifenden) Gerechtigkeit. Diese Fragen halten wir für die entscheidenden Zukunftsfragen und haben erkannt, dass sie nicht voneinander getrennt werden können.
Warum, gelingt es uns aber nicht, als Partei zu erkennen, dass soeben eine weitere fundamentale Frage dazukommt? Warum erkennen wir nicht, dass die Demokratie weltweit am Scheideweg steht? Warum steht für uns dann der (sicherlich nicht unwichtige) Protest gegen Nazis oder die Senkung von Volksbegehrensquoren dann oft an wichtigerer Stelle?
Warum haben wir nur wenig zu Sagen zur Krise, die die Demokratie derzeit weltweit erlebt? Während in arabischen Staaten die Unterstützung für demokratische Kräfte zu oft zu stiefmütterlich behandelt wird, erleiden westliche Demokratien, inklusive unserer eigenen, dramatische Glaubwürdigkeitsverluste. Wir prangern Ungarn für undemokratische Zustände an, unterlassen es aber, diese Kritik an Großbritannien zu üben.
Warum können wir Klimapolitik oder europäische Finanzpolitik teilweise bis ins kleinste Detail erklären, aber uns genügen die recht einfachen Aussagen „unsere Daten gehören uns“ und „es bedarf politischer Lösungen“. Warum geben wir uns nicht erst dann bei technologischen Zusammenhängen zufrieden, wenn wir die entscheidenden kleinen und großen Forderungen fein säuberlich herausgefiltert haben? Statt ständig zu behaupten, wie gut unsere Netzpolitik sei, wäre es wichtiger, sie zu unterstützen, noch besser zu werden.
Liebe Grüne, unser eigener Umgang mit Demokratie ist zu nachlässig. Wir haben es innerparteilich versäumt, die Wertschätzung für Demokratie der Gründungszeit zu erhalten. Liebe Grüne, wir benutzen Wahlcomputer, deren Ergebnisermittlung für niemanden nachvollzogen werden kann, auf unseren Parteitagen und werben für die problembehaftete Briefwahl. Die wenigsten von uns können tatsächlich eine innerparteiliche Wahl korrekt auszählen oder die Wahlverfahren richtig erklären. Und zu viele Privilegierte unter uns genießen die Macht der Geschäftsordnungstricks, die sie bei Bedarf benutzen können.
Wir behaupten, dass unsere Daten uns gehören, sind aber bei der eigenen Umsetzung und dem Verzicht auf Dropbox, Facebook oder Skype um Größenordnungen inkonsequenter, als beim vegetarischen Speisenangebot auf Grünen Parteiveranstaltungen.
Liebe Grüne, wir wollen uns nicht damit auseinandersetzen, dass ein Verständnis von Computern wichtig ist für politische Zusammenhänge. Dass das Sammeln von Mobilfunkbewegungsdaten in unmittelbarem Zusammenhang mit der verbrecherischen Tötung durch Kampfflugroboter (Drohnen), deren Entscheidungen nicht von Menschen, sondern überwiegend durch Algorithmen getroffen werden, ist etwas, was bei den meisten von uns noch nicht angekommen ist.
Liebe Grüne, ich habe ein Verständnis dafür, dass nicht alle Themen gleich ernst oder gleich wichtig genommen werden oder ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein können. Aber die Nachlässigkeit, mit der wir die große Frage nach der Demokratie nicht ausreichend als Zukunftsfrage betrachten, ist für mich eine riesige Enttäuschung. Für mich scheitern wir damit an unserem eigenen Anspruch.
Wer sind wir denn?
Liebe Grüne. Die vergangenen Monate waren eine schmerzhafte Entfremdung von meiner Partei. Eine Partei, die zu viel dafür tut, mit einer Corporate Identity aufzutreten, und in der sich nicht wenige mit ahnungslosen und arroganten Äußerungen zu den Piraten blamieren. Eine Partei, die noch immer zu wenig Raum für eine Fehlerkultur erlaubt. Eine Partei, die behauptet, mit den Menschen zu diskutieren, die aber leider auch bei „3 Tage wach“ viele Fragen zu oberflächlich beantwortet (oder beantworten kann) und – und das finde ich schlimmer – die Antworten völlig anonym mit „Team Grün“ unterschreibt.
Liebe Grüne, wir sind eine Partei in einer Filterblase. Wir sind großstädtisch geprägt – und leben dies schamlos aus. Lebensrealitäten, die außerhalb dieses Raums stattfinden, bemühen wir uns zu selten zu verstehen – genauso wie wir diejenigen nicht erreichen – und viel schlimmer: nicht wahrnehmen – die nicht in unseren (zu) weißen, gut ausgebildeten Milieus vorkommen.
Liebe Grüne, ich kann es nicht mehr ertragen, wenn wir von uns behaupten, dass wir irgendwie die Besten sind. Können wir es nicht einfach dabei belassen, dass wir einfach nur versuchen, unser bestes zu geben und dann zu erklären warum?
Denn das ist das, was wir noch immer nicht beherrschen: zu erklären. Warum dauert es Monate, bis wir einen Steuerrechner präsentieren können? Hier liegt ein Fehler. Der andere ist, dass wir nicht mehr zuhören können, weil wir – als Menschen – zu oft mit zu vielen von uns zusammen sitzen. Zu vielen von uns fehlt ein Leben außerhalb der Partei.
Liebe Grüne. Ich war in diesem Wahlkampf des Kämpfens müde. Wie gesagt, nicht, weil ich nicht mit unseren Positionen kann. Sondern weil ich die Sachlichkeit, die Reflexion und die kritische Distanz zu uns selbst vermisse und eine gewisse Selbstverliebtheit nicht mehr ertrage. Das hat weh getan. Ich will, dass das bitte möglichst schnell wieder aufhört. Danke euch fürs Lesen.